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Am Montag in der Karwoche( Annette von Droste Hülshoff ) 
 Evang.: Vom verdorrten Feigenbaum. (Marc. 11, 12.)
 
 "Wie stehst du doch so dürr und kahl,
 Die trockne Ader leer,
 O Feigenbaum!
 Ein Totenkranz von Blättern fahl
 Hängt rasselnd um dich her
 Wie Wellenschaum." -
 "O Mensch, ich muss hier stehn, ich muss
 Dich grüßen mit dem Todesgruss,
 Dass du das Leben fassest,
 Es nicht entlassest!"
 
 "Wie halt ich denn das Leben fest,
 Dass es mir nicht entrinnt,
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, der Wille ist das Best',
 Die wahre Treu' gewinnt!
 Hältst du im Zaum
 Die Hoffart und die Zweifelsucht,
 Die Lauheit auch in guter Zucht:
 Muss dir in diesem Treiben
 Das Leben bleiben!"
 
 "Wie bist du denn so völlig tot,
 So ganz und gar dahin,
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, wie üpp'ges Morgenrot
 Ließ ich mein Leben ziehn
 Am Erdensaum,
 Und weh, und dachte nicht der Frucht!
 Da hat mich Gott der Herr verflucht,
 Dass ich muss allem Leben
 Ein Zeugnis geben."
 
 "Wer hat dir solches zubereit't
 Durch heimlichen Verrat,
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, des Herrn Aug' sieht weit.
 Er sieht des Würmleins Pfad
 In Blattes Flaum!
 Ihm kannst du nichts entdecken noch
 Entziehn, er sieht und weiß es doch;
 Es lag schon auf der Waage
 Am ersten Tage."
 
 "Du starbest wohl vor langer Zeit,
 Weil du so dürr und leer,
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, des Herren Hand reicht weit,
 Und ist so schnell und schwer,
 Du siehst es kaum!
 Er nimmt dir seines Lebens Hauch:
 Du musst vergehn wie Dunst und Rauch,
 Er braucht nicht Wort noch Stunden,
 Du bist verschwunden."
 
 "Wo bleibt denn seine große Huld,
 Was fruchtet denn die Reu',
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, gedenk' an deine Schuld,
 Gedenk' an seine Treu'!
 Schau', in den Raum
 Hat er mich gnadenvoll gestellt,
 Dass ich durch seine weite Welt
 Aus meines Elends Tiefe
 Dir warnend riefe!"
 
 "Steht denn kein Hoffen mehr bei dir,
 Kein hoffen in der Not,
 O Feigenbaum?" -
 "O Mensch, kein Hoffen steht bei mir;
 Denn ich bin tot, bin tot!
 O Lebenstraum,
 Hätt' ich dein schweres Sein gefühlt,
 Hätt' ich nicht frech mit dir gespielt:
 Ich stände nicht gerichtet,
 Weh mir, vernichtet!"
 
 
 
 
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